G 1/24 – Auslegung von Ansprüchen

Am 18. Juni 2025 erließ die Große Beschwerdekammer (GBK) ihre Entscheidung über die Auslegung von Ansprüchen in EPA-Verfahren in der Sache G 1/24. Die GBK erhob Folgendes zum Leitsatz: „Die Beschreibung und etwaige Zeichnungen sind bei der Auslegung der Ansprüche immer heranzuziehen, nicht nur bei Unklarheit oder Mehrdeutigkeit.“ Die Auslegung der Ansprüche in Verfahren vor dem EPA beruht also auf denselben Grundsätzen wie die Auslegung im Verletzungsverfahren. Vor G 1/24 vertraten einige Beschwerdekammern den Standpunkt, dass die Beschreibung und die Zeichnungen nur dann für die Auslegung der Ansprüche heranzuziehen sind, wenn die Ansprüche unklar oder mehrdeutig sind.

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Während der Leitsatz von G 1/24 bekräftigt, dass die Beschreibung für die Anspruchsauslegung in Verfahren vor dem EPA zu berücksichtigen ist, bedeutet dies nicht, dass Klarheitsmängel in den Ansprüchen einfach durch Bezugnahme auf die Beschreibung gelöst werden können. In Punkt 20 von G 1/24 wird hervorgehoben, „… wie wichtig es ist, dass die Prüfungsabteilung eine qualitativ hochwertige Prüfung durchführt, ob ein Anspruch die Klarheitserfordernisse des Artikels 84 EPÜ erfüllt. Die richtige Reaktion auf eine Unklarheit in einem Anspruch ist eine Anspruchsänderung.

Anspruchsauslegung am EPG

In der Entscheidung UPC_CFI_292/2023 der Lokalkammer (Local Division = LD) München vom 20.12.2023 wies die LD einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Maßnahme zurück. Nach dem ersten Leitsatz der Entscheidung können während des Erteilungsverfahrens vorgenommene Anspruchsänderungen zur Anspruchsauslegung herangezogen werden. In dem entschiedenen Fall vertrat die LD München die Auffassung, dass eine während des Verfahrens vorgenommene Anspruchsänderung ein ursprüngliches Anspruchsmerkmal genauer definiert und daher enger auszulegen ist als von der Antragstellerin vorgetragen.

In einem auf LinkedIn veröffentlichten Artikel merkte ein deutscher Patentanwaltskollege an, dass er im ersten Leitsatz dieser Entscheidung einen Paradigmenwechsel im Vergleich zur bisherigen nationalen deutschen Praxis der Anspruchsauslegung sieht. Diese Auffassung teile ich nicht. Während sich deutsche Gerichte traditionell nicht auf File History Estoppel gestützt haben, haben mehrere aktuellere Entscheidungen des Bundesgerichtshofs (BGH) – wie BGH, Urteil vom 14.06.2016 – X ZR 29/15 – Pemetrexed und BGH Urteil vom 10.05.2011 – X ZR 16/09 – Okklusionsvorrichtung – bereits erläutert, dass während des Erteilungsverfahrens vorgenommene Anspruchsänderungen ein nützliches Instrument für die Auslegung sein können. Die Entscheidung der LD München scheint im Einklang mit dieser nationalen deutschen Rechtsprechung zu stehen (die für sich genommen allerdings eine Praxisänderung in Richtung der nationalen Praxis anderer EPÜ-Vertragsstaaten darstellt, die die Grundsätze des File History Estoppels anwenden).